Alleinerziehende und Kinder überdurchschnittlich, Rentner dagegen unterdurchschnittlich von relativer Armut betroffen – Arbeitslosigkeit und stärkere Lohnspreizung wichtigste Ursachen für gestiegene relative Armut und Ungleichheit
(Paris/Berlin – 21. Oktober 2008) In Deutschland haben die Einkommensunterschiede und der Anteil der armen Menschen an der Bevölkerung in den vergangen Jahren deutlich schneller zugenommen als in den meisten anderen OECD-Ländern. Der Anteil der Menschen, die in relativer Armut leben – d.h. mit weniger als der Hälfte des Medianeinkommens auskommen müssen – liegt mittlerweile knapp über dem OECD-Schnitt, während die Armutsquote Anfang der 90er Jahre noch rund ein Viertel geringer war als im OECD-Mittel. Dies geht aus der Studie „Mehr Ungleichheit trotz Wachstum?“ hervor, die die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) heute in Paris vorgestellt hat.
Auch die Einkommensunterschiede, die lange Zeit im OECD-Vergleich eher gering waren, haben fast das OECD-Niveau erreicht. Vor allem durch einen überproportionalen Anstieg der höheren Einkommen seit der Jahrtausendwende ist die Einkommensschere auseinandergegangen. Insgesamt haben in Deutschland Ungleichheit und Armut in den Jahren 2000 bis 2005 so schnell zugenommen wie in keinem anderen OECD-Land. Neuere nationale Ergebnisse, die auf derselben Datenquelle beruhen (SOEP), zeigen auf, dass sich der Trend zu einer ungleicheren Einkommensverteilung 2006 fortgesetzt hat.
Abgesehen von Frankreich, Spanien, Irland, Griechenland und der Türkei, hat in allen OECD-Ländern zwischen 1985 und 2005 Einkommensungleichheit zugenommen. Anders als vielfach behauptet ist dies keine Voraussetzung oder auch nur hilfreich für Wachstum. „Eine höhere Einkommensungleichheit behindert die Aufstiegschancen über die Generationen hinweg. Sie macht es für talentierte und hart arbeitende Menschen schwerer, den Lohn zu erhalten, den sie verdienen. Diese mangelnde soziale Mobilität beeinträchtigt die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit insgesamt“, sagte OECD-Generalsekretär Angel Gurría bei der Präsentation der Studie in Paris.
In Deutschland doppelt so viele Menschen in Erwerbslosenhaushalten wie im OECD-Schnitt
Für die Zunahme von Einkommensunterschieden und relativer Armut sind mehrere Faktoren verantwortlich. In Deutschland hat Arbeitslosigkeit mehr als in den meisten anderen OECD-Ländern zur gestiegenen Einkommensungleichheit beigetragen. Allein von 1995 bis 2005 ist der Anteil der Personen in einem Erwerbslosenhaushalt (ohne Erwerbstätige, aber mit einem Haushaltsvorstand im Erwerbsalter) von 15,2 auf 19,4 Prozent gestiegen und damit auf den höchsten Wert innerhalb der OECD. Auch der Zuwachs war abgesehen von Ungarn und der Türkei in keinem anderen Land schneller. „Eine höhere Erwerbsquote führt nicht automatisch zu weniger Armut“, sagte OECD-Experte Michael Förster, einer der Autoren, bei der Präsentation der Studie in Berlin.
Kinder in Deutschland verschärfen Armutsrisiko
In fast allen OECD-Ländern hat sich in den vergangenen zwei Dekaden das Armutsrisiko von den Älteren auf die Jüngeren und vor allem auf Kinder verlagert. In Deutschland war diese Entwicklung besonders ausgeprägt. So blieb die Armutsquote bei Menschen über 65 in der Zeit von 1995 bis 2005 stabil bei rund neun Prozent (OECD-Schnitt 13 Prozent), während sie bei Kindern im gleichen Zeitraum von 11 auf 16 Prozent gestiegen ist – und damit fünf Mal so schnell wie im OECD-Mittel.
Bei Kindern, die nur bei einem Erziehungsberechtigten leben, weist Deutschland nach Japan, Irland, USA, Kanada und Polen die fünfthöchste Armutsquote auf. Nimmt man alle Haushalte mit Kindern, liegt Deutschland dagegen auf Platz neun der 30 OECD Länder. In Haushalten ohne Kinder ist das Armutsrisiko in Deutschland dagegen geringer als im OECD-Schnitt.
Vermögen in Deutschland deutlich ungleicher verteilt als Einkommen
Wie in den meisten anderen OECD-Ländern ist Vermögen wesentlich ungleicher verteilt als Einkommen: so besitzen die obersten zehn Prozent etwa die Hälfte des Gesamtvermögens – die einkommensstärksten zehn Prozent der Bevölkerung erzielen dagegen „nur“ etwas mehr als ein Viertel des Gesamteinkommens in Deutschland.
Öffentliche Dienste in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Wohnen verringern Ungleichheit, allerdings in etwas geringerem Maße als in den meisten anderen OECD-Ländern, etwa um ein Viertel. Dabei spielen Gesundheitsdienste eine größere Rolle als andere soziale Sachleistungen, inklusive Bildung.
In punkto sozialer Mobilität zwischen Generationen rangiert Deutschland im Mittelfeld von ausgewählten OECD-Ländern. So hat das Einkommensniveau der Eltern während der Kindheit in Deutschland einen geringeren Einfluss auf das eigene spätere Einkommen als in Ländern wie Italien, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten, aber einen größeren Einfluss als in Australien oder Dänemark. Auch ist der berufliche Status der Eltern für den Bildungserfolg der Kinder ein überdurchschnittlich bedeutender Faktor.
Inhalt
- ausführliches Inhaltsverzeichnis (pdf, 118kB, engl.)
- Einleitung (pdf, 83kB, engl.)
- Präsentation (pdf, 510kB)
- Zusammenfassung (pdf, 229kB)
- Chapter 1 – The Distribution of Household Income in OECD Countries: What Are its Main Features?
- Chapter 2 – Changes in Demography and Living Arrangements: Are they Widening the Distribution of Household Income?
- Chapter 3 – Earnings and Income Inequality: Understanding the Links
- Chapter 4 – How Much Redistribution Do Governments Achieve? The Role of Cash Transfers and Household Taxes
- Chapter 5 – Poverty in OECD Countries: An Assessment Based on Static Income
- Chapter 6 – Does Income Poverty Last Over Time? Evidence from Longitudinal Data
- Chapter 7 – Non-income Poverty: What Can we Learn from Indicators of Material Deprivation?
- Chapter 8 – Intergenerational Mobility: Does it Offset or Reinforce Income Inequality?
- Chapter 9 – Publicly-provided Services: How Do they Change the Distribution of Households’ Economic Resources?
- Chapter 10 – How is Household Wealth Distributed? Evidence from the Luxembourg Wealth Study
- Chapter 11 – Inequality in the Distribution of Economic Resources: How it has Changed and what Governments Can Do about it