„Die SPD schafft sich ab.“ – Sarrazin und die Partei vor der Schiedskommission

Während sich die Genossen der SPD an den umstrittenen Äußerungen ihres Parteimitglieds Thilo Sarrazin abarbeiten, verkennen sie nicht, dass die „alte Tante“ höchst selbst seit Jahren vor der Schiedskommission steht. Eine Schiedskommission aus Beobachtern, Wählern und Mitgliedern. Insofern ist es bezeichnend, dass man in Sachen Sarrazin erst ins Detail geht, eine Anklage zu formulieren, um sich sodann mit vagen und oberflächlichen Bekundungen des Angeklagten zufrieden zu geben.

Andrea Nahles, die das Parteiausschlussverfahren anführte, denkt dabei strategisch. Dafür ist sie berühmt. Als 2004 im Zuge der Einführung von Hartz IV der SPD Mitglieder in Scharen davon liefen und auf den Straßen Menschen zaghaft aufbegehrten, mahnte Nahles schlicht einen Themawechsel an. „Lasst uns über Themen reden, die uns einen, statt spalten.“ Damals war das die sogenannte „Bürgerversicherung“. Damit verteidigte sie nicht nur Hartz IV und die Agenda 2010, sondern rehabilitierte vorsorglich auch deren Altherren-Protagonisten.

Strategische Finesse? Durchaus. Das Schiff hat schließlich nicht nur an Fahrt verloren, sondern mit der sozialdemokratischen Irritation „Gerhard Schröder“ reichlich Lecks geschlagen, die es nun zu flickschustern gilt.

Soviel scheint klar, die kruden Thesen Sarrazins sind völlig ungeeignet, das Schiff im Trockendock zu renovieren. Und weil „Opposition Mist ist“ (Franz Müntefering), dümpelt man weiter im Fahrwasser Richtung Macht und hofft auf stille See. So einfach geht das nicht? Doch, so einfach geht das. Denn auch diejenigen Wähler in Baden-Württemberg, die sowohl den Atomausstieg, als auch den Kopfbahnhof in Stuttgart wählen wollten, werden alsbald feststellen, dass sie tatsächlich nur Politiker gewählt haben. Und die müssen – wie es der Name schon sagt – Politik machen. „Sozialdemokratie“ ist dabei nur ein strategischer Faktor, der sich sinniger Weise programmatisch in allen anderen Parteien ebenfalls wiederfinden lässt. Die SPD hat ihr vermeintliches Alleinstellungsmerkmal über Bord geworfen, als wäre es widerlicher Balast. Logisch, dass die politische Konkurrenz danach greift bzw. die durch die SPD verbliebene Leere zu besetzen sucht.

Wer braucht die SPD?

Wenn laut Andrea Nahles der Fall Sarrazin die SPD „in zwei Lager spaltet“ und dies mit (legitimer) „Meinungsvielfalt“ begründet wird, bekommt man vielleicht eine Ahnung davon, wie es um das Fundament dieser Partei bestellt ist. Im Sinne des Grundsatzes der Philosophie, stets die richtigen Fragen zu stellen, geht es nicht um neuen Bootslack für das Schiff, auch – so scheint’s – nicht mehr um die inhaltliche Ladung, sondern um die Frage nach der Notwendigkeit des Schiffes selbst. Was würden denn die Grünen, denen die Windkraft gerade kräftig in die Segel bläst, schlechter machen als die SPD? Das fragen sich immer mehr Menschen. Die vereinzelten Jusos, die jetzt hilflos Andrea Nahles‘ Rücktritt fordern, offenbar nicht. Sie fordern den Rücktritt wegen dem taktischen Sarrazin-Kompromiss, als wäre die SPD ohne Sarrazin eine andere.

Ein Grundübel aller Parteien ist zudem, dass sie nur mächtig sind, wenn sie auch Macht haben. Also selbst wenn die SPD wollte (Jeder weiß, dass sie nicht will.), könnte sie die schließlich Unfall verursachenden Auswirkungen der Agenda 2010 nicht rückgängig machen. Da damit auch ihre Glaubwürdigkeit vor der Schiedskommission steht, sollten die empörten Jusos besser ihren persönlichen Rück- bzw. Austritt in Erwägung ziehen.

In der Partei um Posten und Programme feilschen, in den Parlamenten und Verwaltungen die richtigen Hebel finden und daran schalten, mag den einen oder anderen Politiker spannend erscheinen. Der Rest dieser Art Berufs- und Kaderpolitik ist gähnende Langeweile. Auch Sarrazin scheint das so empfunden zu haben, weshalb er wiederholt mit dem Feuer spielte, um hiernach zu beteuern, dass er schließlich nichts anzünden wollte.

Wo ist das Problem?

Wenn Olaf Lies, der SPD-Parteichef in Niedersachsen, nun glaubt, dass sich das Ergebnis der Schiedskommission und die weitere Parteimitgliedschaft Sarrazins nur schwer vermitteln lassen, sei die Frage gestattet, was die SPD als Ganzes denn überhaupt vermitteln möchte. Dass Hartz IV gut ist? Das findet Sarrazin immerhin ja auch.

Möglicher Weise ist das Skript ja längst geschrieben: „Die SPD schafft sich ab.“ Why not?

Die Gerechtigkeitslücke

Hamburg (ots) – Der SPD-Sozialexperte Ottmar Schreiner hat seine Partei aufgefordert, sich stärker von der Agenda 2010 zu verabschieden, als sie es bisher getan hat. „Die SPD kann nur erfolgreich sein, wenn sie sagt, was Sache ist“, schreibt Schreiner in seinem neuen Buch

Die Gerechtigkeitslücke

Die Gerechtigkeitslücke

 Die Gerechtigkeitslücke, das kommende Woche in Berlin vorgestellt wird und der ZEIT vorliegt. „Dazu gehört auch das Eingeständnis, dass die Arbeitsmarkt-, Renten- und Steuerpolitik der vergangenen zehn Jahre die sozialen Spaltungen in Deutschland vertieft und verbreitert hat“, schreibt Schreiner.

  Der Sozialpolitiker greift insbesondere die Arbeitsmarktreformen an: „Hartz IV ist zum Symbol für den Niedergang der modernen Sozialdemokratie geworden«, schreibt Schreiner. „Nach langen Jahren hoher Arbeitslosigkeit weiß jeder, dass ein Jahr ohne Job keineswegs außergewöhnlich ist, seit Hartz IV weiß er aber auch, was ihm dann blüht: der Absturz in die Kellerklasse der Gesellschaft. Das ist der Stoff für die bis in die Mittelklasse weit verbreitete Angst vor dem sozialen Abstieg und für das Gefühl wachsender Ungerechtigkeit, die das Land durchwirkt“, schreibt er. Auch die sinkende Arbeitslosigkeit lässt Schreiner nicht als Argument für die Reformen gelten:
„Arbeitslosigkeit wurde durch hochprekäre Beschäftigung ersetzt – solche Effekte auf dem Arbeitsmarkt empfinden die Menschen als Bedrohung“, schreibt er. „Was nützt der Druck ohne Perspektive?“, fragt er.

  Dass die SPD für Mindestlöhne und höhere Renten wirbt, nennt Schreiner „sporadisch aufflackernde Einzelaktionen“. Seine Partei habe begonnen, sich auf ihre alten Werte zurückzubesinnen. „Ob sie ihre Resozialdemokratisierung ernst meint, wird sich noch zeigen“, schreibt er.

Originaltext:         DIE ZEIT

Ottmar Schreiner ist einer jener Politiker, die man die Unbeugsamen nennen könnte. Sie wackeln und wanken nicht.“ (Der Spiegel)

Kurzbeschreibung des Buches:
In Deutschland tut sich eine soziale Kluft auf wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Gerade mal 15 Prozent der Bundesbürger halten ihren Staat noch für gerecht. Auf der einen Seite Hartz IV, Ein-Euro-Jobs, Kinderarmut und Schrumpfrente, auf der anderen Seite schwindelerregende Gewinne und Gehälter der Konzerne und ihrer Manager. Unter Verweis auf die »Stürme der Globalisierung«, denen der »Standort Deutschland« trotzen müsse, wird der Sozialstaat, Markenzeichen einer beispiellosen Erfolgsgeschichte seit den Zeiten Adenauers und Erhards, zum Abschuss freigegeben – nicht nur von Arbeitgeberseite, sondern auch von der Politik.

  • Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
  • Verlag: Propyläen
  • ISBN-10: 3549073496
  • ISBN-13: 978-3549073490
  • Preis: EUR 19,90
  • SPD-Linke schreibt offenen Brief

    Angesichts der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich schlägt die SPD-Linke Alarm und fordert eine Umkehr in der Wirtschaftspolitik. In einem Aufruf mit dem Titel «Reichtum nutzen, Armut bekämpfen, Mittelschicht stärken», der hier zum download zur Verfügung steht, verlangen die 60 Unterzeichner unter anderem die Einführung eines gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohns, die Rücknahme der Rente mit 67 und die Wiedereinführung der Vermögensteuer.

    «Über gerechtere Steuern und eine sozialdemokratische Arbeits- und Arbeitsmarktpolitik wollen wir eine Bildungsoffensive und einen starken Sozialstaat finanzieren», heißt es in dem Papier, das unter anderem von
    SPD-Vorstandsmitglied Hilde Mattheis,
    DGB-Bundesvorstand Claus Matecki,
    Ver.di-Bundesvorstand Margret Mönig-Raane,
    dem Bundesvorsitzenden der IG Bau, Claus Wiesehügel,
    sowie den Abgeordneten Herta Däubler-Gmelin, Marco Bülow, Ottmar Schreiner und Klaus Barthel unterzeichnet wurde.

    Die Unterzeichner werfen Bund und Ländern vor, «in den letzten Jahren immer weniger ihrer Aufgabe gerecht zu werden, durch eine entsprechende Finanz-, Steuer- und Vermögensbildungs- und Sozialpolitik die Einkommen je nach sozialer Belastbarkeit und zum Wohle der Allgemeinheit umzuverteilen». Unter Berufung auf den 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung prangern die Unterzeichner an, dass die Einkommensverteilung so weit auseinanderklafft wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Angst der Mittelschicht vor Armut wachse und die Aufstiegsmöglichkeiten würden geringer, hieß es. Sie räumten zwar ein, dass die Arbeitslosenquote zurückgehe, machten aber darauf aufmerksam, dass gleichzeitig durch die massive Ausweitung des Niedriglohnsektors die Armutslöhne zunehmen. Im Hinblick auf die Arbeitsmarktpolitik fordern die Unterzeichner neben der Einführung eines Mindestlohns die Beschränkung von Leiharbeit, die Begrenzung der Höchststundenzahl für Minijobs auf 15 Stunden, die Umwandlung der Ein-Euro-Jobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse und den Ausbau des öffentlichen Beschäftigungssektors.

    Unter dem Stichwort «starker Sozialstaat» subsumieren die SPD-Linken Forderungen

    • nach einer Rücknahme der Rente mit 67,
    • nach einer Anhebung der Hartz-IV-Regelsätze und
    • nach Fortführung der Altersteilzeitregelung.
    • Die Kranken- und Pflegeversicherung soll zu einer Bürgerversicherung ausgebaut werden, die zu einem höheren Anteil aus Steuermitteln finanziert werden soll.
    • Der Gesundheitsfonds soll ausgesetzt sowie
    • Zuzahlungen und Praxisgebühr wieder abgeschafft werden.
    • Neben der Wiedereinführung der Vermögensteuer fordern die SPD-Linken eine
    • geänderte Erbschaftsteuer, die dem Staat mindestens zehn Milliarden Euro einbringt – bei hohen Freibeträgen für Ehegatten und Kinder.
    • Steueroasen sollen trockengelegt,
    • Steuerhinterziehung soll effektiver bekämpft werden.
    • Die Progression der Einkommensteuer soll neujustiert werden, damit die unteren und mittleren Einkommen stärker entlastet werden. Schließlich verlangen die Unterzeichner eine
    • Wiedereinführung der Entfernungspauschale mit sozialer Komponente und die
    • Abschaffung des Ehegattensplitting zugunsten eines kinderorientierten Familienlastenausgleichs.

     

    Das Papier mit dem Titel „Reichtum nutzen, Armut bekämpfen, Mittelschicht stärken“ stellte SPD-Vorstandsmitglied Hilde Mattheis am Montag im SPD-Vorstand vor. Laut „Frankfurter Rundschau“ vom Dienstag bezeichnete SPD-Chef Kurt Beck die Forderungen in der Sitzung als „wichtigen Beitrag“ zu einem sozialdemokratischen Wahl- und Regierungsprogramm.

    Konsequenzen ziehen – Stiegler schwört Hartz IV ab

    Wenn Ludwig Stiegler das ernst meint, was er im PHOENIX-Interview sagte, dann muss entweder seine Partei oder er persönlich die Konsequenzen ziehen.

    Am besten zieht Stiegler schon mal über die Dörfer und überzeugt auch die restlichen Genossen.

    Hier die Zitatschnipsel:
    Zitate Ludwig Stiegler / PHOENIX-PRESSEMITTEILUNG

    Bonn (ots) – Bonn/Berlin, 25. Januar 2008 –

    „Ich war damals mit zuständig und habe die Kürzungen mit beraten –
    und, wie ich heute sage, leider auch mit beschlossen. (…) Ich fühle
    keinen Verrat an der Agenda 2010. Denn der Zeitpunkt, zu dem die
    Kürzung beschlossen war, war mit der Erwartung verbunden, dass es
    einen Aufschwung gibt. Es gab aber einen Abschwung.“

    Der Stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Ludwig Stiegler im
    PHOENIX-Interview vor der Bundestagsabstimmung über eine längere
    Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Ältere.

    „Ich bereue es persönlich zutiefst, dass ich damals geglaubt habe,
    dass der immerwährende Aufschwung kommt, als wir die Hartz IV-Lösung
    gemacht haben – und dann umständehalber nicht mehr in der Lage waren,
    den Fehler zu korrigieren.“

    Ludwig Stiegler im selben PHOENIX-Interview.

    „Diese neoliberalen Wissenschaftler – ob im Wissenschaftsrat, oder
    ob Herr Köhler, oder ob manche bei IAB -, die wirklich meinen, man
    müsse die Menschen zur Arbeit peitschen, die haben ein völlig
    falsches Menschenbild.“

    Ludwig Stiegler im selben PHOENIX-Interview.