Kinderregelsatz sofort erhöhen

Berlin (ots) – Eine heute vom Paritätischen Gesamtverband in Berlin vorgelegte Expertise kommt zu dem Ergebnis, dass die bestehenden Regelsätze für Kinder und Jugendliche in Hartz IV weit unter dem Mindestbedarf liegen. Je nach Altersgruppe betrage die notwendige Erhöhung bis zu 40 Prozent. Insbesondere der Regelsatz für die Altersgruppe der 6 bis unter 14-Jährigen sei deutlich unterbewertet und liege um 86 Euro unter dem tatsächlichen Bedarf. Eine Unterversorgung bestehe vor allem in den Bereichen Nahrung, Kleidung und Bildung.

Die geltenden Regelsätze für Kinder und Jugendliche reichen nachgewiesenermaßen nicht für die ausgewogene Ernährung eines Schulkindes aus. Ausgaben für Bildung sind überhaupt nicht vorgesehen. Das Zögern der Bundesregierung, hier endlich tätig zu werden, ist angesichts einer Zahl von über zwei Millionen Kindern und Jugendlichen im Hartz IV-Bezug ein Armutszeugnis erster Klasse„, kritisiert Verbandsvorsitzende Heidi Merk.

Nach Berechnungen des Paritätischen müssten die Regelsätze von derzeit 211 und 281 Euro je nach Alter auf Beträge zwischen 254 und 321 Euro angehoben werden, um bedarfsdeckend zu sein. Die gegenüber den offiziellen Regelsätzen deutlich höheren Beträgen resultieren daraus, dass erstmalig in der Geschichte der Bedarfsfeststellung tatsächlich Daten von Familien und von Kindern ausgewertet wurden.
Die bisherigen Analysen bezogen sich ausschließlich auf das Ausgabeverhalten von einkommensschwachen Erwachsenen und insbesondere Rentnern. „Kinder sind nicht nur einfach kleine und billigere Erwachsene, sondern haben spezifische Bedürfnisse und Bedarfe. Das muss endlich berücksichtigt werden„, so Merk.

Der Verband fordert die sofortige Anhebung der Regelsätze auf ein bedarfsgerechtes Niveau sowie die Wiedereinführung eines Rechtsanspruchs auf einmalige Leistungen, wenn besondere Hilfen gefordert sind. Schließlich sei es von entscheidender Bedeutung, dass lokale Infrastrukturangebote in den Bereichen Bildung, Sport und Kultur ausgebaut und einkommensschwachen Familien kostenfrei zur Verfügung gestellt werden.

Expertise Kinderregelsatz

Privatisierung vernichtet Arbeitsplätze

Mit der Liberalisierung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sind in Deutschland seit Anfang der 90er-Jahre mindestens 600.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.Impuls-Grafik Das ergibt sich aus einer Studie von Torsten Brandt und Dr. Thorsten Schulten. Die beiden Forscher aus dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung ziehen eine erste Bilanz der Privatisierungen in den letzten beiden Dekaden. Dazu haben sie unterschiedliche Statistiken ausgewertet: „Eine vollständige Erhebung, die einen exakten Überblick über die Folgen der Privatisierungen erlaubt, existiert bislang nicht. Viele Ökonomen und Politiker haben an diesen Prozess die Hoffnung geknüpft, größere Wachstums- und Beschäftigungspotentiale zu erschließen. Doch eine nüchterne Bilanz sind sie bis heute schuldig geblieben“, sagt WSI-Forscher Schulten.

Zwischen 1991 und 2006 ging die Zahl der Beschäftigungsverhältnisse im öffentlichen Dienst um mehr als 2,1 Millionen zurück. Das war fast ein Drittel aller Stellen im Staatsdienst. Rund die Hälfte dieser Arbeitsplätze fiel aus dem öffentlichen Dienst heraus, weil die Unternehmen, zu denen sie gehören, privatisiert wurden. Die andere Hälfte, rund eine Million Stellen, wurde gestrichen, schreiben die Wissenschaftler. Ihre Untersuchung erscheint in einem neuen Sammelband zum Privatisierungsgeschehen in Europa.*

Im Gegenzug entstanden zwar auch neue Jobs in privaten Firmen, zum Beispiel bei den Konkurrenten der ehemals staatlichen Telekom oder bei privaten Briefdienstleistern. Unter dem Strich sei die quantitative Entwicklung jedoch negativ, so die Wissenschaftler. Ähnliches sei auch in anderen europäischen Ländern festzustellen. Die von der EU geäußerte Erwartung, die Liberalisierung der Wirtschaftszweige Telekommunikation, Post, Transport und Energie werde in Europa eine Million zusätzliche Stellen schaffen, habe sich nicht erfüllt.

Brandt und Schulten haben die Beschäftigungsentwicklung in Deutschland für wichtige Teile der staatlichen oder vormals staatlichen Wirtschaft detaillierter nachgezeichnet:

– Energie- und Wasserwirtschaft: Von Anfang der 90er-Jahre bis 2005 gingen hier 127.000 Stellen verloren, der größte Teil in der Stromwirtschaft. Dies sei auf Marktkonzentrations- und Rationalisierungsprozesse  im Zuge der Liberalisierung des Strommarktes sowie auf Privatisierungen kommunaler Versorgungsunternehmen zurückzuführen, schreiben die Wissenschaftler.

– Telekommunikation: Von 1994 bis 2007 baute die Deutsche Telekom im Inland 77.000 Jobs ab – fast die Hälfte aller Stellen. Seit der Marktöffnung für Wettbewerber 1998 konnten neue Anbieter keinen Ausgleich schaffen, so die Studie: Sie richteten bis 2007 nur knapp 14.000 neue Arbeitsplätze ein. Und der Höhepunkt sei anscheinend schon überschritten: In den letzten Jahren war die Beschäftigungsentwicklung bei der Telekom-Konkurrenz wieder rückläufig.

– Deutsche Post: Die Beschäftigten der Deutschen Post erlebten vor und nach der Privatisierung 1995 einen dramatischen Beschäftigungsabbau im Inland. Allein von 1989 bis 1998 gingen rund 139.000 Stellen verloren. Bei den Wettbewerbern entstanden von 1999 bis 2006 nur etwa 30.000  neue Jobs. Allerdings seien diese nicht mit den gestrichenen Post-Arbeitsplätzen zu vergleichen, schränken die Wissenschaftler ein. Die Hälfte seien niedrig bezahlte Minijobs.

– Verkehr: Seit 1994 hat die Deutsche Bahn rund 170.000 Jobs im Inland gestrichen, bilanzieren Schulten und Brandt. Der Personalabbau begann jedoch schon früher. Bereits in den 80er-Jahren waren bei der Bundesbahn 69.000 Arbeitsplätze weggefallen, zu Beginn der 90er-Jahre setzte sich der Abbau fort. Von 1990 bis 1993 entfielen zudem 88.000 Jobs bei der Reichsbahn.

– Krankenhäuser: Deutsche Spitäler haben seit Anfang der Neunziger Jahre Personal abgebaut und Vollzeit- durch Teilzeitjobs ersetzt. Der Rückgang des Beschäftigungsvolumens entsprach 84.000 Vollzeitstellen. Komplett gestrichen wurden 48.000 Arbeitsplätze.

Weitere von Stellenabbau betroffene Sektoren waren den WSI-Forschern zufolge die Entsorgungswirtschaft sowie kommunale Sport-, Bildungs- und Kultureinrichtungen. In allen Branchen mit starkem Privatisierungsgeschehen spürten auch viele nicht direkt vom Stellenabbau betroffene Beschäftigte negative Folgen, betonen die Wissenschaftler: Das Tarifsystem verliere seine Ordnungsfunktion, der Wettbewerb werde überwiegend über die Arbeits- und Lohnkosten ausgetragen, schreiben Brandt und Schulten.

*Torsten Brandt, Thorsten Schulten: Auswirkungen von Privatisierung und Liberalisierung auf die Tarifpolitik in Deutschland, in: Europa im Ausverkauf, VSA-Verlag, Hamburg 2008